Gedächtnis & Vergessen
Und warum das meiste Vergessen klug ist – bis es zu viel wird.
Dein Gedächtnis ist kein Regal, in das du Ordner einsortierst. Es ist ein lebendiges, pulsierendes Netz aus Milliarden Neuronen, das sich ständig selbst umschreibt. Jede Erinnerung ist ein vorübergehender Tanz von Feuerungsmustern – ein Attraktor, ein kleines Tal in der Energielandschaft des Gehirns. Je öfter du dieses Muster aktivierst, desto tiefer wird das Tal, desto leichter rutscht das Netzwerk wieder hinein. Und je länger du es in Ruhe lässt, desto flacher wird es, bis es irgendwann nur noch eine sanfte Mulde ist, die von neuen Mustern überschrieben wird. Das ist Vergessen – und es ist ein Geniestreich der Evolution.
Ohne aktives Vergessen würdest du nach dreißig Lebensjahren vor lauter Details nicht mehr klar denken können.
Das Gehirn löscht gnadenlos alles, was keinen aktuellen Kontext mehr hat, was sich nicht wiederholt hat, was emotional flach geblieben ist. Der globale Kontextvektor, den du gerade jetzt durch diesen Satz veränderst, driftet unaufhörlich weiter und macht ältere Erinnerungen schwerer auffindbar. Das ist der Grund, warum du den Namen der Grundschullehrerin nur mit viel Anstrengung findest, aber sofort weißt, wo du gestern Abend dein Handy hingelegt hast.
Bei neurodiversen Gehirnen läuft dieser Mechanismus oft anders kalibriert. Viele Menschen mit ADHD erleben eine extrem schnelle Kontextdrift – neue Reize überschreiben alte Muster rasend schnell, deshalb verschwinden Namen, Termine und Einkaufslisten wie in einem Nebel. Gleichzeitig können sie sich, wenn ein Thema sie wirklich packt, an Details aus einem Buch von vor zehn Jahren erinnern, als wäre es gestern gewesen: Der Attraktor war tief, emotional aufgeladen und wurde immer wieder abgerufen. Autistische Gehirne hingegen zeigen oft das Gegenteil: extrem stabile, tiefe Attraktoren für spezielle Interessen (manchmal bis ins kleinste Detail jahrzehntelang präsent) und gleichzeitig ein auffallend schnelles Vergessen von sozialem „Kleinkram“, weil dieser nie emotional oder kontextuell verankert wurde. Hochbegabte wiederum leiden häufig unter einem zu langsamen Vergessen von Belanglosem – sie erinnern sich an jedes Gesicht auf einer Party und fühlen sich dadurch überflutet.

Der Schlaf ist der große Dirigent dieses Umschreibens. Während der Tiefschlafphasen spielen Sharp-Wave-Ripples die Tagessequenzen bis zu zwanzigfach beschleunigt ab und verlagern sie vom Hippocampus in den Neocortex. In der REM-Phase werden emotionale Ladungen neu gewichtet und schwache Verbindungen aktiv abgebaut. Wer regelmäßig zu wenig schläft, dessen Erinnerungen bleiben im Hippocampus stecken und werden am nächsten Tag einfach überschrieben – ein Grund, warum chronischer Schlafmangel das Gedächtnis genauso zerstört wie jahrelanger Stress.
Erinnerungslücken sind nicht immer gleich Vergessen – manchmal sind sie aktive Löschung oder Abschirmung.
Wenn eine Erfahrung extrem belastend oder traumatisch ist, kann das Gehirn bewusst synaptische Verbindungen schwächen oder den Zugang zu einem ganzen Attraktor-Becken blockieren.
Das passiert über zwei Wege: Die Amygdala markiert die Erinnerung mit starker negativer Emotion und der präfrontale Cortex (insbesondere der ventromediale Anteil) unterdrückt aktiv den Abruf, um das System vor Überflutung zu schützen. Gleichzeitig wird während des REM-Schlafs gezielt abgebaut, was zu schmerzhaft ist – eine Art nächtliche Firewall. Bei vielen Menschen mit komplexer PTBS oder Dissoziativer Identitätsstörung funktioniert diese Firewall so effektiv, dass ganze Lebensabschnitte wie ausgelöscht wirken; die Attraktoren existieren noch, sind aber durch tiefe inhibitorische Gräben von den normalen Abrufwegen getrennt.
Bei neurodiversen Gehirnen sieht das oft anders aus: Viele AutistInnen und Menschen mit ADHD berichten von fast fotografischem Zugriff auf Kindheitserinnerungen, auch auf belastende – ihre Firewall ist dünner oder fehlt teilweise, weil die emotionale Filterung und die präfrontale Hemmung anders kalibriert sind. Das kann ein Geschenk sein (keine Verdrängung = schnellerer Zugang zur eigenen Geschichte), bedeutet aber auch höheres Risiko für chronische Übererregung.

In der Demenz schließlich bricht genau diese Schutzfunktion zusammen – nur andersherum. Frühe Alzheimer-Pathologie zerstört zuerst die Fähigkeit des Hippocampus, neue Attraktoren zu bilden, und gleichzeitig die inhibitorischen Mechanismen, die früher unbrauchbares oder schmerzhaftes Material ferngehalten haben. Deshalb erleben viele Betroffene in mittleren Stadien eine paradoxe Flut alter, lange verdrängter Erinnerungen: Kindheitstraumata, Scham oder Angst kommen plötzlich hoch, weil die präfrontale Bremse nicht mehr greift und das Netzwerk keine klaren Grenzen mehr ziehen kann. Gleichzeitig verschwinden die aktuellen Erlebnisse sofort wieder – das Gehirn verliert sowohl die Fähigkeit zum bewussten Vergessen als auch zum bewussten Behalten. Am Ende bleibt ein Netzwerk ohne klare Täler und ohne Mauern dazwischen – alles verschwimmt in einem diffusen, oft angstbesetzten Nebel.
Die gute Nachricht: Solange das System noch gesund ist, kannst du die Tiefe und Stabilität deiner Attraktoren massiv beeinflussen. Tiefes, assoziatives Verstehen statt oberflächlichem Auswendiglernen, aktives Abrufen statt passives Wiederlesen, emotionale Beteiligung, Bewegung (die BDNF und neue Neuronen liefert) und vor allem Schlaf und Stressreduktion – all das vertieft die Täler, die dir wichtig sind. Bei ADHS kann eine kluge Kombination aus Spaced-Repetition-Tools und Dopamin-triggers (Gamification, Body-Doubling) helfen, auch alltägliche Dinge stabiler zu verankern. Bei autistischen Gehirnen nutzt man am besten die natürliche Stärke extrem tiefer Spezialinteressen-Attraktoren, um neue Inhalte daran anzudocken.
Vergessen ist kein Versagen. Es ist der Preis für Flexibilität und die Voraussetzung dafür, dass wir uns überhaupt an eine sich ständig verändernde Welt anpassen können. Erst wenn das Vergessen die Kontrolle übernimmt, statt von uns kontrolliert zu werden, wird es zum Problem. Und genau da setzt das Verständnis der zugrundeliegenden Dynamik an: Wir können lernen, unser Gedächtnis nicht gegen seine Natur zu zwingen, sondern mit seinen Gesetzen zu tanzen – präziser, bewusster und ein Stück weit freier.
Artikel zu dem Thema:
Gedächtnis – Lexikon der Neurowissenschaft
Neuropsychologisches Therapie Centrum der Ruhr-Universität Bochum – NTC
Das Gedächtnis: So formen und vergessen wir Erinnerungen – National Geographic
Demenz – Störungen der Hirn-, Rückenmarks- und Nervenfunktion – MSD Manual Ausgabe für Patienten








